Home MusikCD-Rezensionen Zwei Sätze aus Ludwig van Beethovens 10. Sinfonie erklingen nun durch künstliche Intelligenz vollendet

Zwei Sätze aus Ludwig van Beethovens 10. Sinfonie erklingen nun durch künstliche Intelligenz vollendet

Autor: Tobi

Ludwig van Beethoven "X - The AI Project"

Ludwig van Beethoven

“X – The AI Project”

(CD, Modern Recordings, 2021)

Jetzt bestellen bei Amazon.de


Denkt man an den großen Komponisten Ludwig van Beethoven, dann vor allem natürlich an seine Klavierwerke, an die berühmte 9. Sinfonie mit dem das Dogma der Instrumental-Sinfonie durchbrechenden Chorfinale zu Schillers Gedicht “An die Freude”, an seine einzige Oper “Fidelio” oder an das dank der Pandemie nicht so richtig gefeierte Beethoven-Jahr 2020 zu Ehren seines 250. Geburtstags.

Als Beethoven im Jahr 1827 im Alter von nur 56 Jahren verstarb, hinterließ er eine in handschriftlicher Skizzenform verfasste Notation seiner 10. Sinfonie, die den Beinamen “Die Unvollendete” erhielt. Der Frage, wie seine 10. Sinfonie wohl geklungen hätte, ist nun – initiiert durch die Deutsche Telekom – ein Projekt unter Federführung von Dr. Matthias Röder nachgegangen, Leiter des Karajan-Instituts sowie Managing Partner von The Mindshift, einer Institution, die sich dem Ausloten neuer (technischer) Möglichkeiten an der Schnittstelle von Musik, Kunst und Technologie verschrieben hat. Röder erklärt: “In den Skizzen zur 10. Sinfonie befasst sich Beethoven mit dem Gedanken der Spiritualität. Er möchte den Choral ‘Herrgott dich loben wir’ vertonen, und zwar in alten Kirchentonarten. In den Notizen offenbart sich zudem ein sehr nach innen gewandter Komponist, ganz im Gegensatz zur weltumfassenden Sicht, die in der 9. Sinfonie ihren Ausdruck findet. Vielleicht auch, weil er sich mit seinem eigenen Ende konfrontiert sieht, ist er introspektiv. In diesem Sinne ist es sicherlich erlaubt, die 10. Sinfonie als Kehrseite oder Kontrast zur 9. zu begreifen.”

Mit diesem philosophisch-musikwissenschaftlichen Grundverständnis im Kopf versammelte Röder ein kleines Team von Musikinformatikern und Computerwissenschaftlern, von Programmierern und Komponisten um sich und begab sich mit diesen in einen kollaborativen Arbeitsprozess, der zwei Phasen umfasste. Leicht verzögert durch die Corona-Pandemie erscheint nun ein mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI) unternommener Versuch, die Kompositionsfragmente in ein ausformuliertes Werk zu übertragen.

In der ersten Phase wurde die KI gefüttert mit Beethovens kompositorischem Werk sowie zeitgenössischer Musik Dritter und vor allem mit den Notenfolgen, die Beethoven bereits für die 10. notiert hatte. Damit wurde ein differenzierter Erkenntnishorizont geschaffen, der definierte, was für die KI als Allgemeinwissen, als spezifisches Wissen Beethovens und was als noch unbekanntes Zukunftswissen zu begreifen ist. In der zweiten Phase wurde die KI zur Kreativität aufgefordert. Röder: “Die KI hat all das Wissen, das wir ihr bereitgestellt haben, aufgegriffen und weitergedacht. Über Nacht entstehen dann vielleicht 300 verschiedene Versionen eines Motivs, die alle denselben Anfang haben, sich aber von dort alle ein bisschen anders entwickeln. Aus dieser Vielzahl an Variationen hat der Komponist in unserem Team, Walter Werzowa, dann eine Auswahl getroffen, die KI abermals damit gefüttert und wieder Hunderte von neuen Vorschlägen bekommen. Das ist unendlich faszinierend, denn wenn es algorithmisch sehr gut gemacht wird, dann ist jeder Versuch plausibel.”

Die 10. Sinfonie, genauer, die Sätze 3 und 4, wie sie auf dieser Einspielung durch das Beethoven Orchester Bonn unter der Leitung seines Dirigenten Dirk Kaftan zu hören ist, ist also eine dialogische Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine, bei der die künstlichen neuronalen Netzwerke der KI zu eigenständiger Kreativität aufgefordert wurden, der Mensch jedoch richtungsentscheidend verantwortlich für die finale Partitur zeichnete. Während die KI kalte, emotionslose, aber gleichwohl musikwissenschaftlich fundierte Midi-Noten lieferte, übertrugen der Komponist Walter Werzowa, die Musiker und ihr Dirigent die errechnete Notation in ein lebendiges Werk. Dabei erlaubte sich das Projektteam eine wichtige, von Beethoven so nicht vorgesehene Intervention, indem im vierten Satz eine Kirchenorgel, gespielt von Cameron Carpenter, zum Einsatz kommt.

Röder: “Das Instrument steht für das Spirituelle. Die Orgel ist gewissermaßen eine Schlussfolgerung aus unserer Interpretation seiner Skizzen.“ So schließt sich – vielleicht – ein Kreis: Die Orgel gilt als die älteste von Menschen erdachte Maschine, und sie kommt in der Regel im spirituellen Raum der Gotteshäuser zum Einsatz. Indem der Orgel eine tragende Rolle zugewiesen wird, besitzt die 10. Sinfonie in ihrer Ausformulierung durch eine von Menschen begleitete KI somit ein Überraschungsmoment, das man von Beethoven vielleicht auch hätte erwarten dürfen, und sie steht zugleich für eine Zukunftsidee, für ein Erneuerungspotenzial einer damals zeitgenössischen und neuen Musik.

Die Aufnahmen der Sätze 3 und 4 sind somit eine Momentaufnahme, die den Stand der Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine von heute wiedergibt, ohne den Anspruch, eine “echte” 10. Sinfonie vollendet zu haben, wie sie Beethoven analog aus der kratzenden Feder geflossen wäre. Und sie entstand dennoch im Geiste Beethovens, der künstlerisch keine Grenzen kannte und hier vor allem eines einforderte: “Weiter gehen!”

Die feierliche Uraufführung findet am 9. Oktober 2021 im Telekom-Forum Bonn statt und wird von MagentaMusik 360 und MagentaTV live übertragen.

Beethoven X - The AI Project - Key Visual (© Modern Recordings / BMG)

(© Modern Recordings / BMG)

Einen Tag zuvor wird “Beethoven X – The AI Project” als CD oder Download/Stream (abgemischt in Dolby Atmos) veröffentlicht. Auf den insgesamt 46 Minuten findet man zunächst eine 25-minütige Einspielung von Beethovens 8. Sinfonie, die durch ihre Leichtigkeit und Fröhlichkeit zu bestechen weiß.

Weit interessanter sind natürlich aber die von KI vollendeten Sätze 3 und 4 der 10. Sinfonie. Diese lassen sich gut anhören, und doch bleibt das Projekt an sich natürlich etwas fragwürdig. Sieht man es aber als Ehrerweisung an einen unserer größten Komponisten anlässlich der Feierlichkeiten zu seinem 250. Geburtstag gepaart mit einer interessanten Nutzung der heutigen Technik, dann besitzen die Sätze schon sehr viel Reiz.

Der dritte Satz kommt mit seinen knapp neun Minuten hierbei schwungvoller daher und birgt sehr viel Abwechslung, während die fast 13 Minuten des vierten Satzes über längere Passagen getragen mehr auf Erzeugung von Atmosphäre setzen, bevor sie gegen Ende an Energie gewinnen. Ob Beethoven sich das Ganze nun in etwa so gedacht hat oder nicht, die rund um seine Skizzen entstandene Komposition weiß zu gefallen.

Das Tracklisting:

Ludwig von Beethoven 1770-1827: Symphonie No. 8 in F Dur, Op. 93
1. I. Allegro Vivace E Con Brio 09:21
2. II. Allegretto Scherzando 03:53
3. III. Tempo Di Menuetto 04:30
4. IV. Allegro Vivace 07:06

Ludwig Van Beethoven / Beethoven AI / Walter Werzowa Beethoven – The AI Project
5. III. Scherzo. Allegro – Trio 08:49
6. IV. Rondo 12:39

modernrecordings.de/beethovenx
facebook.com/modernrecordings

Bewertung: 8 von 10 Punkten

(MUCKE UND MEHR ist Teilnehmer des Partnerprogramms von Amazon EU, das zur Bereitstellung eines Mediums für Websites konzipiert wurde, mittels dessen durch die Platzierung von Werbeanzeigen und Links zu Amazon.de Werbekostenerstattung verdient werden kann.)

Related Articles