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Marillion begeistern mit einem großartigen, abwechslungsreichen 20. Studioalbum

Autor: Tobi

Marillion "An Hour Before It's Dark"

Marillion

“An Hour Before It’s Dark”

(CD, earMUSIC, 2022)

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Nachdem Marillion letztes Jahr mit “With Friends At St. David’s” einen starken, orchestral bereicherten Mitschnitt eines 2019er-Livekonzerts im walisischen Cardiff veröffentlichten (lies unsere Rezension hier), bieten die Briten mit “An Hour Before It’s Dark” nun ihr bereits 20. Studioalbum.

Hiermit untermauern sie, dass man ihrem musikalischen Reiz auch nach so vielen Jahren immer wieder erliegen kann. Selbst wenn man einst nach dem Ausstieg von Frontmann Fish, mit dem sie in den 80ern vor allem für ihr großartiges Album “Misplaced Childhood” mit Hits wie “Kayleigh” und “Lavender” weltweit gefeiert wurden, dachte, die Band könnte ohne ihn eigentlich nicht mehr begeistern, wurde man nun schon mehrfach vom Gegenteil überzeugt.

Die folgende Stil-Änderung vom Neo-Prog-Rock hin zum atmosphärischeren Art-Rock gelang damals bestens, und Gründungsmitglied Steve Rothery (Gitarre) sowie die mit ihm verbleibenden Pete Trewavas (Bass), Mark Kelly (Keyboard) und Ian Mosley (Schlagzeug) holten mit Steve Hogarth einen tollen neuen Sänger in die Formation.

Marillion (© earMUSIC / Foto: Anne-Marie Forker)

(© earMUSIC / Foto: Anne-Marie Forker)

Nicht jedes ihrer Alben haute einen zwar vom Hocker, aber in den letzten Jahren haben sich die nicht mehr jungen Jungs wieder in tolle Form reingearbeitet, was sich auch in den Chartplatzierungen widerspiegelte. Nachdem sie nach mehr als 20 Jahren ohne Top-Ten-Platzierungen 2016 mit “Fuck Everyone And Run (F E A R)” erstmals wieder vordere Ränge in den britischen (Platz 4) wie auch deutschen (Rang 10) Charts erreichten und 2019 auf “With Friends From The Orchestra” mit Streichquartett, Horn-Bläser und Querflötistin diverse Songs aus ihren Jahren mit Steve Hogarth mit klassischer Note reizvoll aufbereiteten, steht einem weiteren Erfolg eigentlich nichts im Weg, weiß “An Hour Before It’s Dark” doch komplett zu überzeugen.

Mit den 61 Minuten legen Marillion einen weiteren Longplayer vor, der verwobene Teile aufbietet, auch wenn es sich nicht komplett um ein Konzeptalbum als solches handelt. Die Scheibe handelt vom Leben, unserer Gesellschaft und der heutigen Politik, natürlich mit einiger Kritik versehen. Dass es um die Stunde vor der Dunkelheit geht inkludiert aber auch etwas Hoffnungsvolles, denn noch ist es nicht zu spät, noch gibt es die Möglichkeit, etwas zu bewegen.

Als erste Single wurde nicht umsonst “Be Hard On Yourself” voraus geschickt, was mit einem dunklen Chor startet und mit Textzeilen wie “Big ball of rocks and water, spinning round in space, blue green and made of magic, miracles on miracles on miracles with miracles inside – why would you kill it? Be hard on yourself, you’ve been spoilt for years. Be hard on yourself, you’ll be glad you did” unsere Menschheit auffordert, den Planeten zu retten, so lange es noch möglich ist.

Das dreiteilige Stück – hier komplett live zu sehen – eröffnet das Album und weiß einen mit seiner Mischung aus getragenen und energetischen Momenten sowie Hogarths eindringlichem Gesang direkt zu packen. “You Can Learn” ist der abschließende Teil des Stücks betitelt – Handeln ist gefragt.

Mit dem ebenfalls in drei Tracks aufgeteilten, ebenso starken “Reprogram The Gene” geht es weiter, und hier werden Wissenschaft und Konkurrenz thematisiert, mit Zweifeln, ob es “A Cure For Us?” gibt, wie die abschließende Passage benannt wurde.

Das kurze, sphärische Instrumental “Only A Kiss” leitet zur Single “Murder Machines” über, die als alleine stehender Song die guten wie auch verhängnisvollen Seiten menschlicher Beziehungen beleuchtet, gerade auch in Pandemie-Zeiten, in denen man geliebte Menschen mit Nähe infizieren kann. Steve Hogarth erklärt: “Ich habe versucht, nicht über das Virus zu schreiben. Aber es war in den letzten zwei Jahren so sehr Teil des Lebens, dass es sich immer wieder einschlich. Die erschreckende Tatsache, dass ich meinen Vater oder meine Mutter in die Arme nehmen und sie dadurch töten könnte, war der Auslöser für diesen Song. Der Text wurde dann so weiterentwickelt, dass er auf Eifersucht und Herzschmerz anspielt – auf den Schmerz, wenn man mit ansehen muss, wie die Frau, die man liebt, einen anderen Mann umarmt, oder auf den emotionalen ‘Mord’ eines Serien-Ehebrechers. Und natürlich die Waffen der Supermächte und die Psychopathen, die manchmal ihre Finger am Abzug haben. Hüte dich vor den ‘Murder Machines’…”.

Der letzte Satz dieses Zitats tut umso mehr weh, wenn das Album in einem Moment erscheint, in dem die Welt auf einen furchtbaren, nicht für möglich gehaltenen Krieg blickt. Umso wichtiger ist die Kernbotschaft der Hoffnung, dass es für einen Wandel nicht zu spät ist.

Mit “The Crow And The Nightingale” folgt ein weiterer für sich stehender Song, und die zunächst getragene, dann aber gegen Ende immer mehr Energie verströmende Midtempo-Nummer weiß zu begeistern. “Wrapping the sun with silk, make it something better than blindness, better than darkness – make it something that can be looked at without hurting” singt Hogarth und die wundervolle Komposition wartet mal mit ergänzenden Streichern auf, mal mit weiblichem Hintergrundchor, bietet zudem ein tolles Gitarrensolo.

Mit dem fünfteiligen, viel Wärme verströmenden “Sierra Leone” und dem in vier Abschnitten daher kommenden “Care” geht es wieder konzeptueller weiter. Letzteres ist hierbei ein abwechslungsreiches Juwel, vom elektronischer blubbernden, bedrohlich anmutenden “Maintenance Drugs” über das sphärische “An Hour Before It’s Dark” und das viel auf Piano setzende, zwischendurch aber auch mit schreiender Gitarrelinie aufrüttelnde “Every Call” bis zum klanglich noch einmal voll ausreizenden “Angels On Earth”.

Abschließend bieten Marillion noch einen sechseinhalbminütigen 12″ Remix von “Murder Machines”, und auch wenn man zunächst meint, dass “Care” doch eigentlich ein optimales Finale gewesen wäre, bietet diese Version mit ihren treibenden Beats und mehr elektronischen Klängen doch eine Variante des Stücks, auf die man nicht hätte verzichten wollen. Trotzdem setzen Marillion das Stück dadurch vom Rest ab, dass es zwar im Songlisting auf dem Cover aufgeführt wird, aber keine eigene Tracknummer besitzt und nach vier Minuten Stille im letzten Teil von “Care” angehängt ist.

“Trotz der scheinbar düsteren Betrachtungen auf diesem Album – das Virus, unsere Sterblichkeit, die medizinische Wissenschaft, die Pflege und Leonard Cohen (ha ha) – ist das Gesamtgefühl der Musik überraschend optimistisch. Ich denke, die Band ist so gut in Form wie eh und je, und der ‘Choir Noir’ hat dem Ganzen noch mehr Seele und Farbe verliehen” resümiert Steve Hogarth.

Gut in Form, das können wir unterstreichen und gerne noch zu Bestform steigern. Das erneut in Peter Gabriels Real World Studios aufgenommene, klanglich hervorragende Album ist nichts anderes als großartig mit seinen spannenden, aufregenden Kompositionen, seinen Texten, der instrumentalen Umsetzung, bei der Spielfreude aus allen Poren tropft, und Steves starkem Gesang. Das beste Marillion-Album seit “Misplaced Childhood”!

Im Herbst sind Marillion auf großer Europatournee mit vier Terminen in Deutschland. Hier die Daten – Tickets gibt es z.B. hier bei Eventim (Partnerlink):

3.11.22 Stuttgart – Liederhalle
4.11.22 Berlin – Tempodrom
6.11.22 Bremen – Pier 2
7.11.22 Frankfurt – Jahrhunderthalle

www.marillion.com
facebook.com/MarillionOfficial

Bewertung: 10 von 10 Punkten

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