Home MusikCD-Rezensionen The 1975 bieten erneut einen ungewöhnlichen Genremix von Punk bis Electronica

The 1975 bieten erneut einen ungewöhnlichen Genremix von Punk bis Electronica

Autor: Tobi

The 1975 "Notes On A Conditional Form"

The 1975

“Notes On A Conditional Form”

(CD, Polydor, 2020)

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In Großbritannien und den USA wurden The 1975 von Indie-Musik-Liebhabern in den letzten sieben Jahren ordentlich gefeiert. Ihr selbstbetiteltes Debüt aus dem Jahr 2013 erklomm in Großbritannien ebenso die Spitze der Charts wie der Nachfolger mit dem epischen wie schönen Namen “I Like It When You Sleep, For You Are So Beautiful Yet So Unaware Of It” 2016, mit dem sie dann auch in den USA, Kanada und weiteren Ländern Platz 1 erstürmten.

Mit “A Brief Inquiry Into Online Relationships” untermauerte die Formation aus Manchester 2018 ihre Stellung und erreichte in UK erneut Platz 1, in den USA immerhin Platz 4. Bei uns spiegeln zumindest die Charts bislang allerdings immer noch keinen Durchbruch wider, platzierten sich die Alben doch lediglich auf den Plätzen 57, 28 und erneut 57.

The 1975 (Foto: © Mara Palena)

(Foto: © Mara Palena)

Eigentlich wollten The 1975 vor zwei Jahren mit einem Longplayer, der den Arbeitstitel “Music For Cars” trug, ihre Albumtrilogie abschließen – und sich vielleicht dann auch auflösen, wie Sänger, Gitarrist und Songwriter Matthew Healy mal angedeutet hatte. Dann entschieden sie sich, aus der geplanten Scheibe zwei Alben zu machen und “Notes On A Conditional Form” ein halbes Jahr nach “A Brief Inquiry Into Online Relationships” folgen zu lassen, im Mai 2019. Wie wir sehen, hat es nun doch länger gedauert, bis die beachtlichen 22 Tracks auf knapp über 80 Minuten vorliegen.

Inzwischen ist so einiges passiert, was The 1975 darin bestärkt hat, Meinungen auch weiter nicht zurück zu halten. Bei den BRIT Awards im Februar 2019 zitierten sie die feministische Kritik einer britischen Journalistin, die Frauenfeindlichkeit anprangerte. Im Mai 2019 wurden sie aus Alabama gejagt, nachdem Healy bei einem Festivalauftritt seine Gedanken über das kurz davor beschlossene Abtreibungsverbot in dem US-Staat geäußert hatte. “Was mich daran so wütend macht, ist, dass ich einfach nicht glaube, dass es bei diesem Verbot um den Schutz von Leben geht… ich glaube nämlich, es geht schlichtweg um Kontrolle über Frauen”, hatte er gesagt. Noch drei Monate später wurden sie aufgrund einer vergleichbaren Situation aus Dubai hinausbefördert: Sie waren vor einer Regenbogenfahne aufgetreten, wobei der Frontmann folgende Message für die Crowd hatte: “Wenn du schwul oder lesbisch bist, ich liebe dich! Und Gott liebt dich verdammt noch mal auch!” Garniert hatte er den Protestspruch, indem er einen männlichen Fan geküsst und damit für alle sichtbar gegen die in den Vereinigten Arabischen Emiraten geltenden Gesetze verstoßen hatte (wo Homosexualität genau genommen sogar unter Todesstrafe steht).

Wie immer eröffnen die Briten das Album mit dem selbstbetitelten “The 1975”, das aber stets anders daher kommt. Diese im Juli letzten Jahres veröffentlichte Version bietet der weltbekannten schwedischen Klima-Aktivistin Greta Thunberg und ihrer Botschaft eine Bühne, indem sie eine bewegende Rede der Aktivistin vertonten. Über Thunbergs Aufruf, nun doch endlich zu handeln und die drohende Klimakatastrophe abzuwenden, sagte Matt: “Um dieses Gefühl einzufangen und das zum Ausdruck zu bringen, da gibt es einfach niemanden, der das eindringlicher auf den Punkt bringen könnte. Ich finde sie einfach nur brillant, und ich wollte im Rahmen unserer Möglichkeiten etwas dazu beitragen – indem wir ihr diese Plattform geben. Ich hab das noch nie davor gehabt, aber bei ihr war ich echt starstruck…”

Der Schulterschluss mit Thunberg bedeutete der Band persönlich sehr viel mehr als bloß eine Comeback-Single zu haben, die überraschenderweise mit Aktivistinnen-Feature daherkam: Es war das Versprechen, dass The 1975 ab sofort ihre gesamten Abläufe und Prozesse überdenken und überarbeiten würden. Sprich: Weniger Müll, weniger Energieverbrauch, angefangen bei den Shows über das Album-Packaging bis hin zu den Produkten ihres eigenen Labels Dirty Hit oder dem eigenen Merch. Die T-Shirts, die danach kamen, waren genau genommen existierende (alte) Shirts der Fans, die live und vor Ort bei den Festivals per Siebdruckverfahren in Band-Shirts verwandelt wurden.

Noch mehr Nachdruck verleihen sie Thunbergs Worten dadurch, dass sie einem im Anschluss das krachig punkige “People” um die Ohren hauen, das im August 2019 als zweiter Vorbote veröffentlicht wurde. Healy hat die Schnauze voll und brüllt “Wake up, wake up, wake up! We are appalling and we need to stop just watching shit in bed, and I know it sounds boring and we like things that are funny but we need to get this in our fucking heads! The economy’s a goner, republic’s a banana, ignore it if you wanna.” und “People like people, they want alive people, the young surprise people – stop fucking with the kids!”

Wer denkt, dass es punkig bleiben würde, der kennt The 1975 nicht. Das Quartett bleibt sich nämlich treu darin, eigentlich keinen Konventionen zu folgen und sich zwischen diversen Stilen zu bewegen – und das dann in der Folge diesmal komplett fernab von Krach.

Das Soundtrack-artige, instrumentale “The End (Music For Cars)” kühlt die Gemüter ab und ist nicht das einzige Zwischenspiel, folgt doch etwas später noch das mit klassischen Tönen ähnlich angelegte “Streaming”. “Frail State Of Mind” ist eine fluffige, von R&B beeinflusste Pop-Nummer, und mit den Autotune-Gesang verwendenden Soft-Groovern “Nothing Revealed / Everything Denied” und “What Should I Say” sowie dem verliebten “Tonight (I Wish I Was Your Boy)” gibt es dazu noch weitere R&B-Pop-Nummern.

Die entspannten “The Birthday Party” und “Jesus Christ 2005 God Bless America” – mit Phoebe Bridgers aufgenommen – kommen ebenso wie der schöne Midtempo-Song “Roadkill” mit Folk-Elementen daher, und “Yeah, I Know” bewegt sich nicht als einziger Track im Electronica-Bereich, in diesen tauchen sie nämlich auch mit dem etwas avantgardistischer angelegten “I Think There’s Something You Should Know” und den größtenteils instrumental gehaltenen “Shiny Collarbone” und “Having No Head” ein.

Mit dem Britpop-Stück “Then Because She Goes”, dem sie einige Autotune-Töne zumuten, dem schmissigen “Me & You Together Song”, dem getragenen “Guys” und dem im 80er-Jahre-Sound daher kommenden “If You’re Too Shy (Let Me Know)” gibt es aber auch noch einige – wenn auch sanfter – rockiger anmutende Songs. Als schöne Balladen findet man zudem das auf Gitarre setzende “Playing On My Mind” und das von Piano dominierte “Don’t Worry”, das sie nicht nur mit Matts Vater Tim aufgenommen haben, sondern das dieser auch einst schrieb, als Matt erst elf Jahre alt war.

“Jedes Mal, wenn wir an einem neuen Album arbeiten, dann gehe ich in meinem Kopf meine Musiksammlung durch… wie einen mentalen Karteikasten”, erklärt Matt. “Und ich glaube, dass Notes ein besonders interessantes Album ist, weil es einerseits unsere aggressivsten Momente vereint – und andererseits auch die ruhigsten Sachen, die wir je gemacht haben. Wir stellen diese Extreme einfach nebeneinander. Ich hab ja auch keine Playlist, auf der nur eine Art von Musik zu finden ist; ich höre anders Musik, und wenn mich etwas inspiriert, dann passiert das nie zwei Mal hintereinander in demselben Genre.”

Von den aggressivsten Momenten klingt abseits von “People” zumindest musikalisch wenig durch, aber das zwischen gesellschaftspolitischen und persönlichen Themen wechselnde Album schafft es wieder mal, trotz stilistischer Bauchladen-Mentalität als Ganzes zu funktionieren, und das ist vielleicht die große Kunst, die The 1975 so gut beherrschen wie kaum eine andere Band. Ein weiterer interessanter Longplayer der Jungs.

the1975.com
facebook.com/the1975

Bewertung: 7 von 10 Punkten

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