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Everything Everything bieten ein weiteres starkes Indie-Pop-Album

Autor: Tobi

Everything Everything "Raw Data Feel"

Everything Everything

“Raw Data Feel”

(CD, Infinity Industries, 2022)

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2010 veröffentlichten Everything Everything ihr Debütalbum “Man Alive” und erreichten damit immerhin einen beachtlichen Rang 17 in den britischen Charts, gewannen zudem und den Breakthrough Award der Tageszeitung The Times. Mit ihrem zweiten Album “Arc” schafften die Jungs aus Manchester dann 2013 endgültig den Durchbruch, kletterten auf Platz 5 der UK-Charts und erzielten auch abseits des Königreichs weit mehr Aufmerksamkeit. Die Erfolgsgeschichte wurde mit “Get To Heaven” (2015, Rang 7 in UK) und dem bei den Music Producers Guild Awards als “Album of the Year” ausgezeichneten “A Fever Dream” (2017, Platz 5) sowie ihrer letzten Scheibe “Re-Animator” (2020, Platz 5) fortgeschrieben.

Nachdem 2021 mit “Supernormal” und dem aus den “Re-Animator”-Sessions stammenden “Mercury & Me” zwei neue Singles veröffentlicht wurden, die auch auf einer exklusiv zum Record Store Day als 10″-Vinyl veröffentlichten EP zu finden waren, liegt nun mit “Raw Data Feel” das sechste Album der Jungs vor. Stilistisch bleiben sich Everything Everything hiermit treu und bieten Indie-Pop mit leicht rockigen Einflüssen und vielen elektronischen zusätzlich zu organischen Klängen, geprägt von der ausdrucksstarken Falsett-Stimme von Frontmann Jonathan Higgs und auch gerne mal unkonventioneller Rhythmik – alles andere als typische Mainstream-Musik.

Everything Everything (© Kit Monteith)

(© Kit Monteith)

In der Pandemie und der damit bedingten Live-Auszeit kam der Sänger/Gitarrist auf die Idee, Künstliche Intelligenz aktiv in die neue Scheibe mit einfließen zu lassen, “a fifth member of the band – a collaborator in terms of lyrics, another person I can bounce off.” In den Computer flossen Beowulf, 400.000 4Chan-Kommentare, die Lehren des Konfuzius und die Geschäftsbedingungen von LinkedIn in ihrer Gesamtheit – “the extremes of ancient wisdom, literate beauty and modern horror”, lacht Bassist/Keyboarder Jeremy Pritchard.

So entstanden die sprachlichen Verfälschungen und Neologismen, die das Album prägen – wobei es sich trotzdem um klar verständliche Texte handelt, es wirkt also nicht zu komplex. “I wanted to experiment with something I couldn’t control”, erklärt Higgs, “although I did end up controlling it quite a lot obviously by only feeding it the things I wanted and only choosing the things I thought were good from what it said. It was a collaboration, really, it wasn’t just total chaos. I just wanted something that would come out of nowhere.”

Everything Everything wollten schon immer ein Album selbst produzieren, und jetzt war die Zeit reif dafür, wobei Gitarrist/Keyboarder Alex Robertshaw die Führung übernahm, und die KI sich auch hier etwas auswirken konnte. “It’s the sound of the record as well”, fährt Higgs fort, “a lot of technology meeting organic sounds. I think there is a certain type of interaction between Alex’s technology and the human that is using it which is quite unique.”

Eine Grundlage hatten sie bereits vorliegen, denn mit modularen Synthesizer-Kompositionen als Grundlage der Platte versammelte sich die Band während der wenigen Live-Termine mit Foals im Sommer 2021 im hinteren Teil ihres Busses und hackte an den Arrangements herum, die Robertshaw auf seinem Laptop ausarbeitete. Diesmal würde es kein “disappearing for five weeks and going mad on a farm” geben, wie Schlagzeuger Michael Spearman lachend erklärt – stattdessen fuhren sie ins Studio, das nur fünf Minuten von ihrem Proberaum in Manchester entfernt liegt, und arbeiteten mit Konzentration, Disziplin und – selbst für sie – verblüffenden Leichtigkeit. “I’d like to work like this again”, sagt Higgs. “Hit the ground running. I don’t think poring over something actually improves it.”

Anfang Februar 2022 erschien mit “Bad Friday” ein erster Vorbote zum neuen Album, das “Supernormal” und “Mercury & Me” übrigens nicht enthält. Den eingängigsten und am leichtesten ins Herz zu schließenden Song hatten sich Everything Everything mit der unentspannt pulsierenden Nummer nicht gerade ausgesucht, und doch einen sehr spannenden. Higgs sagt über die Bedeutung des Stücks und zum auch von KI beeinflussten Video: “This song is about being a victim of violence, explaining it away through the gauze of a ‘crazy night out’. We wanted the video to have a monochrome Ink Spots classicism to it, disrupted by elements of A.I.-generated imagery. This reflects the approach to writing and producing the song – the minimalistic combined with the surreal and disorientating.”

Einen Monat später folgte mit “Teletype”, das nun als Opener von “Raw Data Feel” fungiert, ein zwar etwas zugänglicherer, aber auch noch deutlich experimentell beeinflusstes Stück, und auch hier war das Video wieder mit Hilfe von KI-Magie entstanden. Zur Single und den dazugehörigen Bildern, die von Jonathan Higgs entworfen wurden, erklärte die Band: “This song began in a very experimental way, with Alex and Jon sampling voice and guitar then putting it through a process that randomised each chord in a chaotic and glitchy rhythm. A very direct song, straight from the heart, with a fresh new openness that we felt was a good scene-setting for the record. The video consists of human faces that were completely generated by AI, singing the song. It also includes several grotesque experiments that didn’t work, where the machine thought it was making a person but failed.”

Die Sorge, dass die neue Scheibe sich vielleicht kompett eher als eine entpuppen würde, in die man sich mit genug Zeit und Hingabe reinhören muss, wurde Ende März mit dem pumpenden, catchy melodischen “I Want A Love Like This” genommen. Zum sehr feinen Indie-Pop-Ohrwurm erklärten Everything Everything: “This song started as a challenge Alex set Jon to demo a ‘4-chord banger’ that he could put through a particular rhythmic processor on his home-made modular synthesiser. It’s another very instinctive and impulsive composition, talking about a new relationship and a feel of optimism and possibility.”

Und ja, die insgesamt 54 Minuten des Albums bieten noch weit mehr Stücke, die man vom Start weg in Herz und Ohr schließen kann. Die flotter angerichteten “Jennifer” und “Kevin’s Car”, bei denen Jonathan auch punktuell mal etwas tiefer singt, sowie die getragen abgroovenden “Metroland Is Burning” und “My Computer” sind hier zu nennen, und in jedem Fall die packende Synthiepop-Nummer “Cut Up!”.

Hinzu kommen mit “Leviathan” und “Born Under A Meteor” zwei schöne, sphärische Balladen, die eine ganz besonders tolle Stimmung aufbauen – und natürlich noch das eingängige, groovige “Pizza Boy”, das den vierten und letzten Vorboten markierte. Über dessen die Bedeutung sagen Everything Everything: “The song is about recovering from trauma, by focussing on both hedonism and solitude.”

Lediglich “Shark Week”, das progressivere, aber auch sehr interessante “Hex” und der abschließende Sechsminüter “Software Greatman” sind es eigentlich, die wie die ersten beiden Singles etwas sperriger daher kommen, aber auch in diese Stücke kann man sich dann doch recht schnell reinhören. Ein weiteres gutes Album der Briten, das noch etwas mehr zu packen weiß als der Vorgänger.

Parallel zum Album bringt die Band ein Lyrikbuch mit dem Titel “CAPS LOCK ON: Lyrics + Debris 2007-2022” in limitierter Auflage heraus, welches bei Faber Music erhältlich ist. Hierbei handelt es sich um eine vollfarbige, gebundene Ausgabe mit den Texten aller von der Band veröffentlichten Songs, einschließlich B-Seiten, Raritäten und dem neuen Album. Neben den Songtexten enthält das Buch eine Fülle von bisher unveröffentlichten Bildern, darunter Archivmaterial hinter den Kulissen, wie Notizbücher, Akkordblätter, Setlisten und Fotos.

everything-everything.co.uk
facebook.com/EverythingEverythinguk

Bewertung: 8 von 10 Punkten

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