Home MusikInterviews Rammstein zu ihrem Album “Sehnsucht” (04/98)

Rammstein zu ihrem Album “Sehnsucht” (04/98)

Autor: Tobi

Wir schreiben das Jahr 1997. Unendliche Weiten und Abgründe einer deutschen Chartlandschaft. Aber was ist das? In den Top-5 tummelt sich eine Band, die wohl keiner dort in diesem Sommer erwartet hatte – Rammstein. Till Lindemann (31, Gesang), Paul Landers (30, Gitarre), Richard Kruspe (29, Gitarre), Lars Riedel (Bass), Flake Lorenz (Keyboards) und Christoph Schneider (Schlagzeug) schafften mit “Engel” den absoluten Durchbruch in die Bekanntheit, weg von kleinen Clubbühnen hin zu großen Arenen. Kein Dancefloor, kein Rap, kein Schmusepop – hier wird eine Fusion von harten Gitarren, donnernden Beats, elektronischen Sequenzen und ausdrucksstarkem Gesang geboten. Ich treffe an einem heißen Sommernachmittag Paul Landers zu einem netten Gespräch über das Phänomen Rammstein.

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“Ich muß nicht alle von Tills Texten verstehen, ‘Sehnsucht’ z.B. verstehe ich nicht, aber das brauche ich ja auch nicht. Das kann jeder auslegen, wie er will.”

Da “Warum heißt Ihr Rammstein?” und “Wie habt Ihr Euch gegründet?” erklärtermaßen zu den nervigsten Fragen gehören, “da das ja inzwischen jeder schon weiß”, hier nur eine kurze Bestandsaufnahme. Rammstein beginnt als Projekt von befreundeten Musikern aus Ost-Berlin und Schwerin, die in anderen Bands wie “Feeling B” oder “Inchtabokatables” aktiv sind. 1993 nimmt man ein Demotape auf und gewinnt vom Berliner Senat eine Woche im Studio, wo vier Songs eingespielt werden. Nach einigen Liveerfolgen nimmt Motor Music die Jungs unter Vertrag, und das Debütalbum “Herzeleid”, produziert von Jacob Hellner (Clawfinger), steht September 1995 in den Regalen der Plattenläden. Es hält sich kontinuierlich in den deutschen Charts, allerdings vorerst auf etwas weiter unten angesiedelten Plätzen, dennoch bereits ein riesiger Erfolg. Die Presse wird auf Rammstein aufmerksam und reagiert mit geteilten Meinungen auf die Band und ihr Erscheinungsbild. Mancher würde Rammstein am liebsten verbieten lassen, aus diversen Gründen. Zum einen paßt der Name Rammstein nicht in die deutsche Chartlandschaft. Darf sich eine Band entgegen jeder Feinfühligkeit nach dem Ort einer tragischen Flugschaukatastrophe benennen? Die Band ist stets bemüht, den Zusammenhang zu leugnen. Man hatte sich nur so genannt, da das Wort so kraftvoll geklungen habe, außerdem als Ost-Deutsche nicht viel von der Tragödie erfahren. Im “Breakout”-Interview wiederum erfährt man, daß sogar der Name “Rammstein-Flug-Show” im Gespräch gewesen sei und man nicht wußte, daß das Thema im Westen ein Tabu sei, man habe aber wirklich auch nicht mitbekommen, was genau passiert sei. Wie dem auch sei, man kann keinem zu verübeln, sich daran zu stoßen, daß dann auch noch ein Song über die Katastrophe eingespielt wird und T-Shirts mit der Textzeile “Ein Mensch brennt” verkauft werden. Zum anderen wird Rammstein oftmals Rechtslastigkeit vorgeworfen, nur aufgrund ihres martialischen Auftretens und Till’s rollendem ‘R’, mehr Angriffsfläche bieten sie nicht. Die Texte stecken voller Gewalt, aber nie sind sie auch nur annähernd faschistisch. Heute wissen die sechs Musiker, daß es ein Fehler war, zu Beginn ihrer Karriere Fragen nach Textauslegungen oder herrenhaftem Auftreten als Probleme der Kritiker zurückzuweisen. “Wir dachten nicht im Traum daran, daß jemand der Presse so etwas glauben könnte, so absurd fanden wir das.” ‘Erklären wollen sich die martialischen Männer mit dem kantigen Klang nicht’ bemängelt noch heute der “Musik Express”, was aber so nicht stimmt. “Wir werden immernoch gefragt, ob wir rechts sind. Wir hoffen mal, daß auch der letzte Journalist irgendwann begriffen hat, daß wir nicht rechts sind. Wir sind keine Deutschland-Fans, sind nicht besonders stolz, aus diesem Land zu kommen, mehr sage ich dazu nicht. Es trifft uns immer so hart, wenn wir uns ständig für etwas entschuldigen müssen, was wir nicht sind. Wir sind das leid. In Amerika dachten alle aufgrund des ‘Herzeleid’-Covers, wir seien schwul. Die waren überrascht, daß wir es nicht sind.” Paul liegt offensichtlich viel daran, auch irgendwann diese Thematik vom Tisch zu haben und nicht mehr Fragen wie “Warum seid Ihr nicht rechts?” beantworten zu müssen, und so trifft es ihn auch hart, wenn Musiker-Kollegen gegen Rammstein schießen. “Jürgen Engler (Die Krupps) hat gesagt, daß wir öffentlich bekennen sollten, daß wir nicht rechts sind, auch wenn wir dann weniger Platten verkaufen. Das finde ich richtig fies. Als wenn wir auf rechte Symbolik angewiesen sind, um mehr Platten zu verkaufen. Erstens müßte es ja unser Ziel sein, mehr Platten zu verkaufen, was aber nicht so ist. Außerdem können wir auf die rechten Schwachköpfe mehr als verzichten.”

Weiter in der Chronik. Aufsehen erregen Rammstein durch die Tatsache, daß US-Kultregisseur David Lynch für den Soundtrack seines Films “Lost Highway” die Songs “Rammstein” und “Heirate Mich” auswählt. “Ich glaube schon, daß uns das vorangebracht hat, obwohl es übertrieben war, daß das von der Presse so hoch bewertet wurde. Die taten ja so, als sei uns Jesus erschienen. Wir haben uns gefreut, das aber nicht so hoch bewertet.” Wie aber kommt ein David Lynch auf Rammstein? “Wir haben damals an alle unsere Lieblingsregisseure wie Lynch und Tarantino CDs geschickt und gefragt, ob sie nicht ein Video machen wollen. Deswegen hatte David Lynch auch unsere CD. Durch einen dummen Zufall hatte er sie bestimmt noch im CD-Wechsler seines Autos und dachte sich: ‘das spiele ich mal an der blutrünstigsten Stelle’.”

Am 1. April 1997 meldet sich die durch Touren mit “Project Pitchfork” und “Eskimos & Egypt” im Bekanntheitsgrad stark gestiegene Band mit der langerwarteten neuen CD-Maxi “Engel” zurück, die einschlägt wie eine Bombe. Die Singlecharts notieren den für Rammstein relativ soft klingenden Song am 8.4. erstmals auf Position 12, später wird er sogar bis auf Platz 4 klettern und Goldstatus erreichen, ebenso wie “Herzeleid”, welches im Sog bis auf Platz 14 klettert. Alle Arten von Presse stürzen sich auf die Jungs. Die “Bravo” berichtet über ‘die Heavyband mit dem Sänger als Feuerteufel’ und streut – ihre Leser werden es nicht merken – dank schlechter Recherche einige Fehler ein, wie die ‘Bandgründung Anfang 1995’ und ‘zarten Kinderchor im eingängigen Refrain der Powernummer’, Sängerin Bobo (Bobo In White Wooden Houses) wird er verkraftet haben. Ende Mai kommt eine Fan-Edition der Maxi-CD auf den Markt, die den Langzeit-Fans den Wunsch nach den alten Aufnahmen der ansonsten unveröffentlichten Stücke “Wilder Wein” und “Feuerräder” endlich erfüllt und somit zum Muß wird.

Das in Hamburg gedrehte Video zu “Engel”, eine Hommage an den Film “From Dusk Till Dawn”, läuft auf VIVA rauf und runter. “Wenn es dein Traum ist, auf VIVA gespielt zu werden, dann bekommst du vielleicht eine nasse Hose, aber wir haben andere Ziele, das geht uns eigentlich ziemlich am Arsch vorbei.” Mit MTV verdarben es sich Rammstein erstmalig, als sie “Du Riechst So Gut” aus Frust über Verbot der eigentlich zugesagten Pyrotechnik bei einem Vorabend-Studioauftritt mit blutiger Showeinlage zelebrierten, was die Engländer so arg schockierte, daß auch der “Seemann” sofort aus dem Programm eliminiert wurde. Dazu gesellt sich im Juni ein Vorfall vom Hurricane-Open-Air-Festival, als Rammstein einen MTV-Manager in ein Backstage-Zelt bitten, ihn an einen Stuhl fesseln und eine Rauchbombe (wie auch Till sie auf der Bühne einsetzt) an seinem Bein festbinden und entzünden. In der Presse wird die Aktion als Protest gegen Nichtberücksichtigung des “Engel”-Videos bewertet, VIVA-Text belegt die Band mit dem Prädikat ‘OUT – da die harten Jungs nicht nur auf der Bühne gewalttätig sind’. Paul stellt klar: “Das war eigentlich gar nicht gegen MTV, sondern gegen den Typen persönlich. Schreib nicht den Namen, das ist er nicht wert. MTV waren ja die ersten, die uns gespielt haben, den ‘Seemann’ damals, da hat VIVA nein gesagt. VIVA hat auch zu ‘Engel’ nein gesagt, den mußten sie dann spielen, da er in den Charts war. Es ist Quatsch, daß der Vorfall ein Protest von Rammstein war, weil wir nicht gespielt wurden. Es ist süß und geschwindelt, was da in den Zeitungen steht. Ich erzähle dir mal, wie es wirklich war. Alle, die den Typen kennen, die haben uns zu der Aktion beglückwünscht. Die Ärzte haben uns gedankt, neulich hat einer vom Fanzine uns gesagt: ‘Gott sei dank hat der endlich mal einen vor den Zahn gekriegt’. Das ist ein Typ, der ist verantwortlich für MTV Deutschland, ein schleimiger Widerling, der emporgekrochen ist an eine Stelle, wo er einfach nicht hingehört, weil er inkompetent, dumm und lasch ist, eine richtige Pflaume, ein widerlicher Sesselpups. Jetzt sitzt der da und schikaniert alle Bands in seiner Umgebung, hat aber noch nie an die Konsequenzen seines Handelns gedacht. Wie Bullen teilweise sind, wenn sie Sachen machen, weil sie genau wissen, ihnen kann keiner. Das sind Typen, die nie bezahlen müssen für ihr Handeln. Und da wollten wir ihm eben mal das Gegenteil beweisen. Wir müssen nicht zu MTV und zu VIVA, wir haben es auch ohne sie geschafft, aber das ist ja gar nicht so problematisch, MTV wird uns sicher auch bald spielen. Ich hoffe mal, der Typ fliegt bald raus, und daß auch andere Bands den Mut haben, Leute, die sie scheiße behandeln, mal zu ärgern. Rammstein ist das beste Beispiel, daß man, ohne nett zu sein, Erfolg haben kann. Die Sex Pistols haben damals auch mal bei ihrer Plattenfirma das Büro aus dem Fenster geworfen, das fand ich richtig gut. Danach geht alles viel flinker.” Kam es zur Anzeige? “Ja, klar, so richtig wegen Körperverletzung”.

Um die Wartezeit auf das Album “Sehnsucht” zu verkürzen erscheint Mitte Juli die zweite Auskopplung, “Du Hast”, mit Remixen von Jacob Hellner und Clawfinger, aber ohne die eigentlich vorgesehene Coverversion des Kraftwerk-Klassikers “Das Model”. “Wir sind da hin- und hergerissen. Eigentlich wollten wir mal eine Coverversion machen. Mal finden wir ‘Das Model’ richtig gut, dann wieder nicht. Viele West-Journalisten fanden den Song sehr gut, aber es gibt zwei Hauptgründe, warum wir ihn letztendlich doch erstmal nicht veröffentlicht haben. Erstens wollen wir uns nicht in die Reihe von Bands wie The Bates oder so begeben, die durch Coverversionen bekannt werden, zweitens wollten wir den Text in ‘Sie ist eine Hure und sieht gut aus’ ändern, aber da hatten die Kraftwerk-Männer was dagegen.” Selbst hätten sie nichts gegen Coverversionen ihrer Stücke. “Es ist doch eine Ehre, gecovert zu werden”. In puncto Mixe stimmt mir Paul voll zu, daß auf “Du Hast” der Mix des Produzenten Jacob Hellner das Highlight ist, aber auch die Version von Clawfinger sehr interessant, insgesamt aber der “Engel”-Mix von Eskimos & Egypt vorerst unschlagbar sein dürfte. “Der war richtig gut, der beste bis jetzt.” Meine kleine Kritik, daß die durch tolle Remixe bestechenden Maxi-CDs doch aber noch reizvoller wären, wenn man als Bonus anstatt einiger Album-Versionen (“Sehnsucht” und “Bück Dich”) unveröffentlichte Tracks zu hören bekäme (wie auf der Fan-Edition von Engel) beantwortet Paul einfach und ehrlich mit den Worten: “Wir sind da auch noch nicht so richtig fit, das ist ja erst unsere zweite Platte. Du mußt zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Songs fertig haben, um so etwas zu machen. Vielleicht machen wir ja noch eine Platte und versuchen dann, die Maxis noch interessanter zu machen.” “Du Hast” steigt in den deutschen Charts auf Platz 5 ein, welches auch die höchste Plazierung bedeutet. “Daß wir in den Charts sind, dann freut uns das zwar, aber das ist für uns kein Maßstab. Das trifft mich nicht so, daß wir auf Platz 5 einsteigen, das hat ja nicht viel mit Qualität zu tun.” Wohl wahr, wenn man sich anschaut, was sonst noch in den Chartgipfeln zu finden ist.

Der Erfolg geht also weiter, das Phänomen Rammstein lebt in voller Blüte. Was aber ist das Geheimnis des Erfolges? Mancher Kritiker antwortet mit einem Verweis auf das Geld, das Major-Label Motor in die Band investiert hat. “Promotion ist nichts, wenn die Band nicht auch gut ist. Natürlich brauchst du eine gute Plattenfirma, aber die Band muß schon was hergeben.” Ein wichtiger Faktor ist mit Sicherheit das Bühnenspektakel, das Rammstein live präsentieren. Hier stehen knallharte Musik und pyrotechnische Show gleichwertig nebeneinander. Da rennt Till im lichterloh brennenden Gewand über die Bühne, da explodieren Kanonenschläge oder auch mal Puppenköpfe, da sprühen Fontänen, sorgen Rauchbomben für das Ambiente und schießen Raketenwerfer in den dunklen Nachthimmel (oder die Hallendecke). Das alles wird perfekt zur Musik inszeniert, und inzwischen besitzt Till sogar einen Pyro-Schein aller Klassen und darf selbst die nächsten Kollektionen einkaufen. Mit Sicherheit ein kostspieliges Auftreten, wie hat man dieses früher realisiert? “Am Anfang haben wir immer viel reingebuttert, anstatt unsere Einnahmen zu sparen. Wir haben schon immer über unsere Verhältnisse gelebt, haben zwei Techniker mitgenommen, wenn wir nur einen bezahlen konnten.” Gesundheitlich haben auch bisher alle Musiker ihre Einlagen überstanden, wenn auch nicht immer völlig heil. “Ja, verletzt haben wir uns auch schon manchmal, auch etwas ernster. Wir sind da auch nicht versichert gegen, das ist ganz schlimm. Wenn Till mir mit Fontänenhänden ins Ohr schießt und das glüht da drin zu Ende und das Trommelfell wäre weg, dann können wir nichts machen. Das ist eigentlich etwas leichtsinnig, aber vielleicht werden wir erst klug, wenn man was Schlimmes passiert. Auch Fans ist ja schon öfters mal was passiert, aber es hält sich immer im Rahmen. Wer mit dem Feuer spielt…”, sagt Paul und fügt etwas verharmlosend hinzu: “Meistens sind die so verschwitzt, da brennt keiner.”.

Trotzdem gab es schon brenzlige Situationen, wie beim 100. Konzert ihrer Herzeleid-Tour in der mit 6000 Zuschauern ausverkauften Berliner Arena im letzten Jahr, als es aufgrund eines abstürzenden, brennenden Metallkastens mehrere Verletzte gab. Damals wurde das Konzert nicht abgebrochen. “Das war für uns ein Fingerzeig Gottes, da hätten auch Menschen sterben können, denn das Ding wiegt 60 Kilo. Da hätte ja auch Till draufgehen können, der kurz vorher noch drunter stand. Nach dem Konzert haben wir uns aufgeteilt in drei Gruppen und sind in die drei Krankenhäuser gefahren, in denen die Leute lagen, um nach dem rechten zu gucken und die Fans zu besuchen. Zum Glück ist nichts ganz Schlimmes passiert. Darum haben wir jetzt immer eine Pyro-Firma für die Endkontrolle dabei, die aber auch schon wieder zweimal richtig Unfug gemacht hat. Bei Heike Makatsch hatten wir, was man im Fernsehen nicht gesehen hat, richtig viel Pyro am Start, und der Produktionsleiter war eigentlich dagegen, wir haben aber immer gesagt, daß es ungefährlich sei. Als er sich dann über so eine Bombe gebeugt hat, hat die Pyro-Tante sie aus Versehen in seinem Gesicht explodieren lassen. Der war natürlich richtig sauer, fing an zu Brüllen, hatte keine richtigen Augenbrauen mehr, und das war dann unser Einstand, so ‘Hallo, wir sind Rammstein’. Das zweite Mal war auf einem ganz bösen Metal-Festival bei Bremen, da waren auch Biohazard. Als die gerade mit ihren Kindern im Backstagebereich auf einem Rasen-Halbrund spielten, da schoß unsere Pyro-Frau eine Rakete, die nicht losgegangen war bei unserem Gig, in diese Richtung, die landete dann so einen Meter vor den Biohazard-Kids und ging hoch. Da rannte dann der Biohazard-Sänger rum und schrie ‘Someone hast to be hurt now’, den konnte Till gerade mal noch so beruhigen. Das hat natürlich keinen guten Eindruck hinterlassen.” Das Konzert in der Arena sollte übrigens den Fans bereits auf Video zum Kauf angeboten werden, was aber gestoppt wurde. “Die Tonqualität ist so schlecht, das wollen wir den Leuten nicht zumuten. Aber vielleicht kümmere ich mich nochmal darum, dann werden wir es auch auf Konzerten verkaufen.”

Der Rammstein-Hörer ist inzwischen auch schon längst nicht mehr zu kategorisieren. Auf den Konzerten tummeln sich Gestalten verschiedensten Alters, hier läßt der Beamte ebenso die Sau raus wie der Heavy oder Mit-EBM-Aufgewachsene. Rammstein sind spätestens seit Bravo ein Massending. “Die alten Vor-Engel-Fans wundern sich ebenso wie wir, warum plötzlich die ganzen ‘Normalos’ zu Rammstein rennen. Wir freuen uns darüber natürlich, können es aber nicht unbedingt nachvollziehen. Die Jugendlichen wollen vielleicht provozieren, Musik hören, mit der sie die Eltern irgendwie schocken können, so daß sie den Kopf schütteln, dann freuen sie sich.” Laut STERN sind die typischen Fans zwischen 30 und 40, ‘unscheinbare Typen zumeist, in deren kleinkarierte Hemden nicht selten stattliche Bierbäuche stecken. Und offenbar auch ein paar Abgründe’. Zusammen mit der Tatsache, daß im dortigen Artikel die Band nur als dreiste Marktidee nach dem Motto ‘der rechte Tabubruch als letztes Geschütz gegen 68er-Eltern und andere Berufsjugendliche – es muß ja nicht gleich indexreif sein’ eingestuft wird, kommt Paul zu dem Schluß: “Der Stern-Artikel war doch finster. Eigentlich müßte man sich erschießen, nachdem man den gelesen hat. Wahrscheinlich hat Kurt Cobain seinen Stern-Artikel gelesen damals.”

Auch die Jungs selbst sind jedenfalls überrascht von dem, was im Moment um sie herum passiert. “Gerechnet hat niemand mit so einem Erfolg, sonst hätten wir uns nicht Rammstein genannt und nicht ‘Ich will ficken’ gesungen. Dann hätten wir uns benommen.” Ärgern werden sie sich nun wohl nicht, wenn auf dem Konto ein paar Nullen hinzukommen. “Natürlich kann man sich freuen, wenn man mehr Geld kriegt, aber ich habe da auch nicht so die Ansprüche, ich habe genug Geld. Ich habe kein Auto, keinen Fernseher, nichts, ich brauche nicht mehr Geld. Wir sind nicht so böse geldgeil. Ich sehe das als Geschenk des Himmels, daß wir für eine Sache, die uns Spaß macht, auch noch Geld kriegen. Ich hätte nie gedacht, daß wir mit Rammstein je Geld verdienen.”

Ende August endlich erscheint das zweite Rammstein-Album “Sehnsucht”. Benehmen tun sie sich immer noch nicht. Wird über Texte wie “Bück Dich” diskutiert? “Ja, wir machen alles zusammen, sind eine Einheit. Da kann auch der Schlagzeuger über die Texte meckern.” Und wo liegt die Hemmschwelle? “Damals bei diesem ‘Ich will ficken’ standen wir drei gegen drei. Schließlich sagte die Gegner ‘Na gut, aber nur ein Mal’, dann die Befürworter ‘Okay, ein Mal’, und so ließen wir es eben im Song. Auf der neuen CD war die Stelle ‘weil sie gefingert werden will’ ein kleiner Streitpunkt, da haben wir überlegt, ob wir lieber ‘gestreichelt’ oder so nehmen, das war ein Hin und Her, aber dann dachten wir uns, so schlimm ist es ja doch nicht. Wir haben auf jeden Fall eine Hemmschwelle.”

Ein weiterer Faktor des Ruhms sind sicher die von Gewalt und Sex geprägten, lyrischen Texte, von denen auf “Sehnsucht” manche um einiges klarer als noch beim Debüt erscheinen. So prangert Till beim “Tier” Kindesmißbrauch an, bei “Küß Mich (Fellfrosch)” singt er über das Schicksal weiblicher Genitalien. “Ich muß nicht alle von Tills Texten verstehen, ‘Sehnsucht’ z.B. verstehe ich nicht, aber das brauche ich ja auch nicht. Das kann jeder auslegen, wie er will. Vielleicht ist das auch ein Trick des Erfolges. Ich finde die Texte auf ‘Herzeleid’ noch einen Zacken besser, obwohl, das kann man so auch nicht sagen. Meine Lieblingstexte sind ‘Du Riechst So Gut’ und ‘Heirate Mich’, die gehen mir richtig ans Herz, auf der neuen CD gefällt mir vor allem ‘Alter Mann’. Wir wollen eine Mischung finden zwischen Lyrik und Geschichten, die erzählt werden.” Und was fasziniert Rammstein so an Gewalt, die ja immer wieder in den Texten präsent ist? “Gestern hat Ice-T im Fernsehen gesagt: ‘Von Gewalt geht eine Energie aus, die mich fasziniert’.” Das CD-Cover zeigt, je nachdem, wie man das Booklet faltet, einen der sechs Rammsteine, das Gesicht gefangen in vermeintlichen Folterinstrumenten. Die Fotos schoß der umstrittene österreichische Künstler Gottfried Helnwein (“Wir sind durch einen gemeinsamen Bekannten zusammengekommen. Ihm gefiel die Musik, uns seine Kunst.”), die Instrumente stammen aus dem Originalfundus des berühmten Arztes Ferdinand Sauerbruch. “Das hat Spaß gemacht. Wir waren vor einem Jahr bei Helnwein auf dem Schloß, da haben wir diese Fotosessions gemacht, und jetzt haben wir die ausdrucksstärksten Bilder rausgesucht.”

Musikalisch weiß “Sehnsucht” voll zu überzeugen. Früher konnte man sagen, daß “Herzeleid” gut ist, Rammstein live aber um einiges besser, hier nun nähert sich die Power der Studioproduktion (wieder von Jacob Hellner) dem Liveeindruck an. Hinzu kommt ein vermehrter, geschickter Einsatz von Elektronik an den richtigen Stellen. “Du hast ja einen ziemlichen Druck, wenn du eine neue Platte machst. Die Plattenfirma hat uns sehr viel Zeit gegeben, bis wir eine neue Scheibe machen wollten. In dieser Zeit haben Schneider und Richard gelernt, viel besser mit der Elektronik umzugehen, da waren wir bei der ersten Platte ja noch Laien. Außerdem haben wir einen Elektronik-Experten aus Manchester hinzugezogen, daher ist sicher mehr Elektronik zu hören.” Bemängeln könnte man als Kritiker die Ähnlichkeiten der Songstrukturen zwischen Debütalbum und Nachfolger. Da erinnert “Spiel Mit Mir” an “Heirate Mich”, noch mehr sicher “Klavier” an “Seemann”. “Wir haben nicht versucht, die erste Platte nochmal aufzunehmen. Wenn es doch etwas ähnlich klingt, dann liegt das wahrscheinlich an uns, besser können wir es nicht. Bei ‘Klavier’ z.B. gab es zu Beginn nicht die harten Gitarreneinschläge, ich war da auch voll dafür, um nicht einen halben ‘Seemann’ zu machen. Wir haben das versucht, mit Gitarren, mit Bass, aber es ging nicht anders, wir mußten einfach wieder diesen Krach machen.” So werden wir wohl in absehbarer Zeit, trotz Bravokonformität, keinen Kuschelrocksong von Rammstein zu hören kriegen. “Das wäre schön. Wenn uns das gelingt, dann freuen wir uns, denn ein sanfter Song muß ja nicht schlecht sein. Wir machen nicht mit Absicht so harte Songs, das passiert einfach. Wir würden schon gerne mal ein paar sanfte Dinger machen, die auch gut sind. ‘Bestrafe Mich’, ‘Alter Mann’ oder auch ‘Engel’ sind ja schon irgendwie sanfter.” In jedem Fall enthält “Sehnsucht” viele starke Tracks mit ebenso gelungenen Texten. “Am Anfang war mein Lieblingssong ‘Tier’, heute fand ich ‘Bestrafe Mich’ sehr gut, aber ich mag die meisten Songs. ‘Engel’ finde ich persönlich nicht so gut. Was im Endeffekt rauskommt, spiegelt aber immer unseren derzeitigen Geschmack wieder.” Eine dritte Auskopplung ist momentan nicht geplant, aber trotzdem möglich.

Momentan bleibt den sechs Musiker in jedem Fall wenig Freizeit, da ist es nicht verwunderlich, daß friedliches Familienleben ausbleibt. “Wir haben keine richtigen Familien, das ist mehr oder weniger alles gescheitert. Es gibt eine halb intakte Familie, aber der Rest ist alles hin und her und durcheinander, außer Till, der ist allein erziehender Vater. Wir haben keine Frauen, die zuhause auf uns warten, so doof ist keine Frau, was ich auch nicht übel nehmen kann.” Wie gut, daß Erfolg Groupies mit sich bringt, oder trifft dieses Klischee nicht mehr zu? Paul grinst breit: “Wir haben viele schöne Frauen im Publikum, warum weiß ich auch nicht. Groupies – manchmal ist es so, wie man denkt, manchmal ist es zehn Tage genau das Gegenteil. Es ist nicht so, daß jeden Abend zehn Frauen vor meinem Bett Schlange stehen.”

Es folgt nach den Sommerfestivals, bei denen Rammstein als einzige deutsche Band auch beim traditionellen Festival im englischen Reading auftreten, eine weitere Tour, “dann stoppen wir aber, live in Deutschland zu spielen, packen unsere Koffer und düsen nach Amerikanien”. Mit englischen Textversuchen im Gepäck? “Wir haben das jetzt versucht, aber richtig gelingen will uns das nicht. Wir machen also mal wieder das, was man nicht machen soll, nämlich in Amerika deutsch zu singen, und das wird mal wieder klappen, weil wir immer gemacht haben, was man nicht tun sollte, und es hat immer geklappt. Vielleicht synchronisieren wir einige Lieder wie einen Film.”

Live spielen Rammstein auf den Festivals gerne zusammen mit “Bands, die uns noch zeigen können, wo es lang geht. Wir haben neulich mit Skunk Anansie in der Schweiz gespielt, die waren vor uns und waren musikalisch so qualitativ hochwertig, da kamen wir uns etwas schäbig vor, und das ist sehr angenehm, dieses Gefühl. Es gibt nichts schlechteres, als auf einem Dorffestival als Bester zu spielen. Ich spiele lieber mit Bands, die einen klein machen. Bei Marilyn Manson, Deep Purple, Prodigy und Skunk Anansie war das so. Das sind Qualitätmusiker, wir sind nur so Ost-Berliner Klopfköpfe. Ich finde unsere Band natürlich gut, aber rein musikalisch sind wir nicht so turbomäßig. Am liebsten aber spielen wir alleine.” Angesprochen auf Bands mit ähnlichem Musikstil kommen wir auf eine Oomph!, die im Januar endlich bei einem Major (Virgin) veröffentlichen werden. “Die gab es schon zwei Jahre früher, und vielleicht sind die etwas angefressen, daß wir soviel Erfolg haben und die immernoch keiner kennt. Ich hoffe mal, daß sich das ändert, da sie musikalisch stellenweise noch besser als wir. Wir mögen Oomph! eigentlich sehr. Als wir die ‘Herzeleid’ fertig hatten, da habe ich mal eine Oomph!-CD gehört und habe gedacht: ‘Mann, die machen ja das, was wir wollen, damit sind die ja schon fertig!'”. Faires Lob für eine der vielleicht kommenden großen Bands.

Was aber ist aus der Freundesband Rammstein geworden? “Wir haben angefangen als Freunde. Inzwischen wir die Freundschaft auf eine harte Probe gestellt, da man seine Freunde jeden Tag sieht. Das ist schon ganz schön hart. Ich bin mir aber sicher, daß die Freundschaften wieder da sind, wenn es Rammstein irgendwann mal ein halbes Jahr nicht mehr gibt.” Was haben die Jungs vorher noch für Ziele? “Ab und zu will ich mal ‘ne Platte machen und will live spielen. Und ich will mal mit meinem Sohn Angeln gehen, aber mir fehlt da total das Wissen, das habe ich noch nicht durchschaut.”

So bleibt irgendwie doch das Phänomen Rammstein unaufgeklärt. “Uns macht es Spaß, Musik zu machen. Es ist nicht unsere Aufgabe, sich Gedanken zu machen, warum wir plötzlich so erfolgreich sind. Ich denke trotzdem, es ist einfach: Rammstein ist seit langem mal wieder eine Band, die stänkert, eine von den wenigen deutschen Bands, die auffallen und sich nicht einreihen in Amerika- oder England-Kopien. Wir haben einen Sänger mit Charakter und wollen alle das selbe.”

In diesem Sinne wünsche ich Rammstein weiterhin viel Erfolg (den kann momentan sowieso keiner bremsen), eine verletzungsfreie Zukunft, gute Pyrotechniker und Paul ein Angelbuch!

 

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